Mathilde Anneke (c)Wikipedia

Einblicke in das Leben einer außergewöhnlichen Frau, einer Vorkämpferin für Freiheit und Demokratie. – Mathilde Franziska Anneke (1817 – 1884)

An einem kalten Dezembertag 1837 entflieht die 20-jährige Mathilde Anneke der ehelichen Wohnung in Mühlheim an der Ruhr. Die junge Frau aus bürgerlichem Stand hat vor wenigen Tagen ihre Tochter Johanna geboren. Mit ihrem Baby im Gepäck bricht sie auf ins Ungewisse. Sie verlässt einen alkoholkranken, gewalttätigen Ehemann und nimmt gesellschaftliche Ächtung und drohende Armut in Kauf. Dass nicht der Mann, sondern die Frau die Scheidung eingereicht hatte, ist zu jener Zeit ein Skandal.

In einem aufreibenden Scheidungsprozess gibt ihr 1843 das Gericht schließlich die Alleinschuld wegen „böslichen Verlassens“ des Ehemannes. Den richterlichen Aufforderungen zu ihrem Mann zurückzukehren, widersetzt sie sich. Sie schreibt später:

„Nach dem Ausgang eines unglücklichen Scheidungsprozesses meiner ersten Ehe, […] war ich zum Bewusstsein gekommen und zur Erkenntnis, dass die Lage der Frauen eine absurde und der Entwürdigung der Menschheit gleichbedeutende sei.“

Von bürgerlichen Damen verachtet,
von Schriftsteller-Kolleginnen bewundert

Mathilde Anneke wird von Zeitgenossen als gebildet und hübsch beschrieben. Mit einer Körpergröße von 1,80m ist sie eine imposante Erscheinung. In den Jahren nach ihrer Scheidung lebt die allein erziehende Mutter unter finanziell schwierigsten Bedingungen und verdient ihren geringen Lebensunterhalt als Schriftstellerin.

Unter der ihr angediehenen gesellschaftlichen Ablehnung und dem Zeitgeist des Vormärz, dessen liberale Ideen die Französische Revolution und Aufklärung auch nach Preußen gebracht hatten, wird Mathilde Anneke verstärkt gesellschafts- und regimekritisch tätig. Sie verkehrt in Kreisen, die Gleichheit und Freiheit fordern und sich für die Abschaffung des Presse- und Versammlungsverbotes stark machen. Im „demokratischen Verein“ in Münster lernt sie ihren späteren Ehemann Fritz Anneke kennen, der wegen seiner politischen Gesinnung unehrenhaft aus der preußischen Armee ausgeschlossen worden war.

„Wohlstand, Freiheit und Bildung für alle!“

Fritz Anneke (c)Wikipedia

Das junge Ehepaar Anneke bezieht eine Wohnung nahe dem Rheinufer in Köln, einer Hochburg der radikalen demokratisch-kommunistischen Bewegung in der Rheinprovinz. Noch im gleichen Jahr erregt Mathilde Aufsehen durch ihre feministische Streitschrift „Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen“. Diese Veröffentlichung markiert den Beginn ihres Kampfes der Frauen um politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung.

Die politische Initiative der Annekes zieht rasch viele weitere kritische Geister ihrer Zeit an. Sie unterhalten einen Club, in dem die führenden Oppositionellen ihrer Zeit verkehren. Beflügelt von der Revolution in Frankreich fordern sie das allgemeine Wahlrecht und Demokratie.

1848 beteiligt sich Mathilde Franziska Anneke leidenschaftlich an der demokratischen Revolution.

Gemeinsam mit ihrem Mann gründet sie die „Neue Kölnische Zeitung“, welche die Interessen aller Klassen des arbeitenden Volkes repräsentieren sollte. Hochschwanger zu ihrem ersten gemeinsamen Sohn muss sie im Juli 1848 mitansehen, wie ihr Mann Fritz als „staatsgefährdendes Element“ verhaftet und des Hochverrats angeklagt wird. Die darauffolgenden sechs Monate verbringt er in Haft.

Ihr gemeinsames Werk setzt sie daraufhin alleine fort. Sie übernimmt die Herausgabe des Blattes, verfasst einen Großteil der Artikel, bekommt ihr Kind und macht weiter. Als die Zeitung der Zensur zum Opfer fällt und verboten wird, gründet Mathilde Anneke kurzerhand die „Frauen-Zeitung“, in der Hoffnung, unter diesem Titel weniger interessant für die Obrigkeit zu sein. In der ersten Ausgabe fordert sie im Leitartikel, dass die Kirche nicht länger die Hoheit über die Schulen haben solle. Das Blatt wird nach nur dreimaligem Erscheinen verboten.

Altersbild von Mathilde Anneke (c)Wikipedia


Auswanderung in die USA

Nach der Niederschlagung der Revolution wandert das Ehepaar Anneke in die USA aus. Auch dort setzt sich Mathilde Anneke für die Gleichberechtigung der Frau und als Aktivistin gegen die Sklaverei ein. Nach ihrem Tod 1884 gibt es in allen großen amerikanischen Zeitungen Nachrufe.

 

 

 

 

 

 

Kurz vor ihrem Tod stellt sie rückblickend fest:

„Man muß sein Leben in der Alten Welt begonnen haben, um zu begreifen, wie gut es ist, frei zu sein; (um) zu verstehen, wie notwendig Freiheit ist für ein wirklich ruhiges Leben.“
– Mathilde Franziska Anneke

Deutschland im 19. Jahrhundert

Zu Lebzeiten Mathilde Annekes war Deutschland ein aus 36 souveränen Einzelstaaten bestehender Staatenbund. Die Ziele der Revolution von 1848/49, einen vereinten Bundesstaat zu schaffen und mehr Mitbestimmungsrechten für die Bürger zu erreichen, waren mit der gewaltsamen Vertreibung des Rumpfparlaments in Stuttgart am 18. Juni 1849 gescheitert.

Die Mehrheit der Bevölkerung bestand aus besitzarmen und landlosen Familien, die in bitterer Armut lebten. Die Kindersterblichkeit lag zwischen 20-35%. Die Gesellschaft unterlag strengen hierarchischen Strukturen – so war beispielsweise das Recht auf Heirat dem Adel, dem Bürgertum oder Landbesitzern vorbehalten. Wer keinen Besitz vorzuweisen hatte, durfte nur mit der Zustimmung des Grundherrn heiraten. Für viele Menschen hieß die Alternative von einem Grundherrn abhängig zu sein (was der Sklaverei gleichkommt) oder die Existenz für sich und seine Familie durch Lohnarbeiterschaft zu sichern. Die beginnende Industrialisierung hatte hunderttausende Handwerker arbeitslos gemacht. Sie drängten nun, genau wie zahlreiche besitzlose Landarbeiter und verarmte Kleinbauern, in die wachsenden Industriestädte und versuchten dort eine Stelle als Lohnarbeiter zu finden.

Die durchschnittliche Arbeitszeit zählte 12-Stunden an sechs bis sieben Tagen in der Woche. Bezahlt wurde den Arbeitern oft so wenig, dass sie notgedrungen auch ihre Frauen und Kinder zur Arbeit schicken mussten, die für noch geringere Löhne Schwerstarbeit leisteten. Ein Schulbesuch wurde dadurch unmöglich gemacht. Durch die Wohnungsnot lebten in den Städten bis zu 10 Personen auf 14 m².

Alkoholismus galt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielerorts als „Pest der Zeit“. Besonders der günstige Branntwein zählte für die unteren Bevölkerungsschichten zu einem der essentiellen Lebensbedürfnisse.

 

Ursula Feuerherdt
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